Boundary
Das Leben der Flüchtlinge in den Lagerhallen von Belgrad
Als die Sonne langsam am Horizont verschwindet, ist das Spiel in vollem Gange. Orthan hat das flache Stück Holz, das als Schläger dienen muss, fest umklammert. Mit der ausladenden Bewegung, die typisch für Cricket Spieler ist, schleudert sein Gegenspieler den abgenutzten Tennisball in seine Richtung. Mit einem lauten „Klong“ schlägt Orthan den Ball im hohen Bogen über den Platz. Er landet außerhalb des Spielfelds. Ein Boundary Schlag, der Homerun des Crickets. Orthan reißt die Arme hoch und wird von seinen jubelnden Mitspielern umringt. Doch das Spiel geht weiter, denn der nächste Schlagmann wartet schon auf seine Chance.
Wenige Meter neben dem improvisierten Cricketfeld beginnt ein Komplex aus heruntergekommenen Lagerhallen. Dort lebt Orthan zusammen mit mehreren hundert anderen Menschen. Er ist 14 Jahre alt und wie so viele hier vor Terror und Krieg in seinem Heimatland geflohen. Fast alle kommen aus Afghanistan oder Pakistan und wollen weiter nach Westeuropa reisen. Wie viele Menschen hier genau leben, lässt sich schwer sagen, die Fluktuation ist zu hoch. Sicher ist nur, dass die Lagerhallen das größte illegale Flüchtlingslager in Serbien bilden. Es liegt im Herzen der Hauptstadt Belgrad, direkt neben dem Hauptbahnhof. Dahinter erstreckt sich die Altstadt, mit ihrer kruden Mischung aus Altbauten, modernen Hochhäusern und sozialistischen Wohnblöcken. Dicht an dicht drängen sich die Gebäude am Hang und wenn man vom Flüchtlingslager auf die Stadt blickt, versteht man, warum Belgrad übersetzt die Weiße Stadt heißt.
Ca. 1000 Flüchtlinge leben in inoffiziellen Camps in und um Belgrad. Die meisten von ihnen in den Lagerhallen am Bahnhof. Immer wieder versucht die serbische Regierung die Menschen dazu zu bewegen, in die offiziellen Flüchtlingsheime zu ziehen, die im ganzen Land gebaut worden sind. Laut Amnesty International sind viele dieser Lager allerdings hoffnungslos überfüllt. Außerdem fürchten viele Flüchtlinge, ihre Reisefreiheit zu verlieren, sollten sie in ein offizielles Lager umziehen: Die offiziellen Lager sind zwar keine Gefängnisse, aber die Flüchtlinge haben Sorge, dass sich das ändern könnte.
Von 2000 im Juni 2016, auf fast 7700 im Februar 2017 ist die Zahl der Flüchtlinge in Serbien drastisch gestiegen. Nach der Schließung der Balkanroute im März 2016 war Serbien nicht in der Lage, die Grenze zu Mazedonien und Bulgarien vollständig gegen illegale Einreise zu sichern. 150 - 200 Flüchtlinge kommen so täglich über die Grüne Grenze ins Land. Serbien wurde so von einem Transitland zur Pufferzone. Die Flüchtlinge stecken fest, denn die Grenze zu Ungarn, als EU Außengrenze, wurde de facto dicht gemacht. Oft bleiben die Flüchtlinge jetzt mehrere Monate in Serbien. Nur wenige schaffen es, die Grenze illegal mit der Hilfe von Schmugglern zu überqueren. Andere probieren es auch auf offiziellem Weg. Ungarn nimmt pro Woche aber nur 100 Flüchtlinge auf.
Dichter Rauch schlägt einem entgegen, wenn man die Lagerhallen in Belgrad betritt. Hier kann man beobachten, was die europäische Abschottungspolitik für die Menschen bedeutet. Roman Traknil, ein 16 Jähriger Junge aus Afghanistan, ist in dicke Decken gehüllt. Auf seinem Kopf trägt er eine schwarze Wollmütze. Der Rauch und die schlechten Lebensbedingungen machen ihm schwer zu schaffen, sagt er. Er leide unter Atembeschwerden und Kopfschmerzen.
Die kleinen Feuer, die überall brennen, sollen die Kälte des harten serbischen Winters zumindest lindern. Die Lagerhallen selbst sind baufällig und bieten kaum Schutz. Es ist zugig, die Fenster sind kaputt oder gar nicht vorhanden. Die Feuer wurden oftmals direkt neben den Schlafplätzen entfacht und glühen die ganze Nacht durch. Doch der Rauch hinterlässt seine Spuren.
Wie Roman klagen viele über Atemprobleme oder chronischen Husten.
Wie schlecht die Lebensbedingungen sind, zeigt sich auch bei der Wasserversorgung.
Nur zwei Leitungen stehen für mehrere hundert Menschen zur Verfügung. Wer sich duschen will, muss das bei Minusgraden draußen tun. Auch die ärztliche Versorgung ist nur rudimentär vorhanden. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat zwar eine Praxis in Belgrad und ist mit mehreren Zelten auf dem Gelände vertreten, doch offiziell dürfen sie im Lager nicht helfen. Die serbische Regierung hat allen großen Hilfsorganisationen untersagt, tätig zu werden. Daher müssen kleinere, private Organisationen oder einzelne Helfer die Versorgung übernehmen.
Jeden Tag bildet sich eine lange Schlange auf dem Platz zwischen den Lagerhallen. Ob es regnet oder schneit, egal bei welchem Wetter. Dicht an dicht gedrängt stehen die Menschen dann zusammen und warten. Pünktlich um 13 Uhr kommt ein weißer Lieferwagen um die Kurve gefahren. Es ist der Essenswagen der kleinen Organisation Hot Food Idomeni, ein Zusammenschluss freiwilliger Helfer, die schon 2015 in Idomeni, Griechenland, im damals größten Flüchtlingslager Europas, Notleidenden geholfen haben. Die Mitarbeiter kommen aus ganz Europa. Sie sind die einzigen, die regelmäßig, Tag für Tag, ein kostenloses Essen anbieten. Mehrere hundert Menschen gilt es dann zu versorgen. Hot Food Idomeni ist aber nicht alleine.
Viele einzelne Freiwillige kommen immer wieder vorbei und helfen mit Essens- oder Sachspenden aus. Aber auch anderweitig wird geholfen. Da ist der Amerikaner, der ab und an kleine Feiern organisiert und für ein bisschen Abwechslung im immer gleichen Lageralltag sorgt. Oder die Gruppe um den Iren Dylan, die mit Kettensägen und Äxten angerückt sind, um bei der Beschaffung von Feuerholz zu helfen. Das alles ist gut und wichtig, doch eine große NGO wie Ärzte ohne Grenzen oder das Flüchtlingshilfswerk UNHCR könnten mehr schaffen. So gibt es auf dem ganzen Gelände keine einzige Toilette. Wer mal muss, geht in den nächsten Busch.
Nach dem Essen, wenn der Nachmittag anbricht, wird auf den Plätzen vor den Lagerhallen Sport getrieben, geredet und entspannt.
Oder man macht es wie Noor Rahman und fängt an sauber zu machen.
In einem kleinen Nebenraum in einer der Lagerhallen hat er sich zusammen mit seinen Freunden ein temporäres Zuhause eingerichtet. Viel Platz gibt es nicht, die Schlafplätze liegen eng beieinander und sind nur durch Holzbalken auf dem Boden voneinander abgetrennt. Als Eingangstür dient ein schweres Metalltor, das an die industrielle Vergangenheit der Lagerhallen erinnert. Direkt daneben befindet sich eine kleine Feuerstelle, auf der den ganzen Tag über ein Topf mit heißem Chai, Schwarztee mit Milch und Zucker, steht. Auch ein Lager für Feuerholz gibt es, das fein säuberlich gestapelt worden ist. Doch der Eindruck eines Provisoriums bleibt. Keiner möchte lange hier bleiben. Der Ruß des Feuers hat die Wände dunkel gefärbt, der Putz platzt ab und an manchen Stellen klaffen große Löcher.
Auch Shafiq Khan lebt hier, zusammen mit seinen Freunden. Alles junge Männer, die schon seit Monaten in Belgrad sind, aber die Hoffnung noch nicht verloren haben, es eines Tages nach Westeuropa zu schaffen. Shafiq ist ein besonnener junger Mann, der langsam und leise spricht, wenn er von seinen Erlebnissen auf der Flucht erzählt.
Er hat, wie die meisten hier, die klassische Fluchtroute über den Balkan gekommen. Mit Hilfe von Schleppern, erst nach Pakistan dann über den Iran in die Türkei, nach Bulgarien und dann nach Serbien. Weiter kam er bis jetzt nicht. Die ersten Etappen sind schwierig. Doch in Bulgarien wird es richtig problematisch. Polizisten verhaften ihn und er sitzt einen Monat lang im Gefängnis. Laut einem Bericht von Moving Europe geht es vielen so: Im ganzen Land verteilt gibt es Flüchtlingsgefängnisse. Die durchschnittliche Haftzeit betrug 2015 zwischen 18 und 21 Tage. Doch es gibt auch Menschen, die bis zu 6 Monate inhaftiert wurden. Häufig wird auch von Misshandlungen in den Gefängnissen durch die bulgarische Polizei berichtet. Aufgrund der schlechten Erfahrungen, die viele Flüchtlinge in Bulgarien machen, wollen sie so schnell wie möglich das Land verlassen. Auch wenn sie in Bulgarien Asyl erhalten.
Doch Shafiq blickt nach vorne. Sein Ziel ist Frankreich. Dazu muss er aber zunächst die Grenze zu Ungarn überqueren. Ein Gesetz in Ungarn erlaubt es, Menschen, die bis zu 8km hinter der Grenze bei der illegalen Einreise aufgegriffen werden, direkt wieder zurück nach Serbien zu schicken. Viermal ist das Shafiq schon passiert, und das ist noch wenig. Viele erzählen, dass sie es schon 10, 15 mal probiert haben und immer wieder gescheitert sind. Das ist nicht verwunderlich. Ein Grenzzaun, mit Stacheldraht bewehrt und kilometerlang, trennt Ungarn von Serbien. Die ungarische EU-Außengrenze gleicht einem Bollwerk. Zudem sind Beamte der Grenzschutzagentur Frontex im Einsatz, die mit modernster Aufklärungstechnik ausgestattet sind und die ungarischen Beamten unterstützen. Regelmäßig scheint es auch zu Misshandlungen zu kommen. Shafiq erzählt, dass er zusammengeschlagen wurde und sich vor den Beamten vollständig entkleiden musste. Auch Bargeld sei gestohlen worden und zu allem Überfluss hätten sie sein Handy, ein lebenswichtiges Kommunikationsmittel, zerstört. Solche Geschichten hört man immer wieder und sind anscheinend kein Einzelfall. Auch Human Rights Watch kann diese Berichte bestätigen. Die alternative Route über Kroatien würde eine Möglichkeit darstellen, doch dort sieht es ähnlich aus.
Falls Shafiq irgendwann in Frankreich ankommen sollte, wird er ca. 6000 Euro an Schlepper bezahlt haben. Das Geld wird dabei auf der Flucht nicht in bar am Körper getragen, sondern bei einem Treuhänder hinterlegt. Die Schlepper werden etappenweise bezahlt. Erst wenn die jeweilige Grenze sicher überquert wurde, bekommt der Schlepper das Geld. Um sich das leisten zu können, leihen sich die Flüchtlinge Geld bei Verwandten und Freunden. Oft wird auch ein Teil des Landes, das die Familie besitzt, verkauft. Viele Familien setzen ihr ganzes Geld aufs Spiel, in der Hoffnung, dass einer es nach Europa schafft und die Familie nachholen kann. Daher will Shafiq in Frankreich auch so schnell wie möglich anfangen zu arbeiten und das Geld zurück zahlen. Am liebsten auch weiter zur Universität gehen. In seiner Heimat hatte er ein Studium zum Bauingenieur angefangen.
Was bewegt die Menschen, Familie und Freunde zurück zulassen, und auf eine monatelange Reise zu gehen, in ein unbekanntes Land, mit dem Wissen, dass sie ihre Familie wahrscheinlich Jahre lang nicht wieder sehen werden?
Wenn man mit Wais redet wird einem das sofort klar. Der 16 jährige ist kräftig gebaut, wirkt selbstsicher und redet schnelles Englisch, das den unverkennbaren Klang eines afghanischen Muttersprachlers hat.
Sein Vater wurde in Afghanistan von den Taliban getötet, er selbst wurde bedroht, überfallen und mit einem Messer attackiert. Die Narben am Bauch, die von diesen Erfahrungen erzählen, kann man klar und deutlich sehen. Er musste fliehen, um zu überleben. Die meisten Menschen, die in den Lagerhallen in Belgrad hausen, sind vor dem Terror der Taliban geflohen. Auch finden sich einige, die mit der westlichen NATO - Koalition zusammengearbeitet haben und nach dem Abzug großer Teile der Streitkräfte, von den Taliban bedroht wurden.
Trotzdem hat Deutschland Afghanistan als sicheres Herkunftsland eingestuft und lässt dorthin abschieben. Teile Afghanistans gelten tatsächlich als sicher, doch die Erzählungen der Flüchtlinge in Belgrad und Berichte von Human Rights Watch und dem FDD’s Long War Journal machen klar, dass viele der 34 Provinzen Afghanistans noch von den Taliban kontrolliert werden.
Auch Orthan, der Cricketspieler, will nach Frankreich reisen. Vielleicht schafft er es über die Grenze und kann dort eine Ausbildung beginnen und vielleicht bekommt er dort einen Job, kann das Geld, dass er sich geliehen hat zurückzahlen. Vielleicht kann er auch eines Tages seine Familie wiedersehen. Das sind viele Vielleicht’s für die Zukunft eines jungen Menschen. Für jemanden der fliehen musste, weil es in seinem Heimatland nicht sicher ist. Weil er Gewalt erfahren musste und bedroht wurde. In den alten Lagerhallen von Belgrad kann man kein gutes Leben führen. Die Bedingungen sind keines Menschen würdig. Ob Orthan jemals eine sichere Zukunft in Westeuropa haben kann um in Frieden zu leben, ist fraglich. Die Entscheidung dafür liegt bei der EU.
Fotos und Text: Niklas Niemann
Alle Bilder wurden im Februar 2017 in Belgrad, Serbien, aufgenommen.
Quellen
Human Rights Watch:
https://www.hrw.org/de/news/2016/07/13/ungarn-migranten-grenze-misshandelt
https://www.hrw.org/report/2017/02/13/pakistan-coercion-un-complicity/mass-forced-return-afghan-refugees
UNHCR:
https://data2.unhcr.org/en/documents/download/54535
https://data2.unhcr.org/en/documents/download/53657
https://data2.unhcr.org/en/documents/download/52619
https://data2.unhcr.org/en/documents/download/53994
Amnesty International:
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2017/01/refugees-in-serbia-left-out-in-the-cold/
Moving Europe:
http://moving-europe.org/wp-content/uploads/2016/08/160727_Bulgarien.pdf
The Migrant Files:
http://www.themigrantsfiles.com
FDD’s Long War Journal
http://www.longwarjournal.org/archives/2017/02/afghan-government-has-lost-territory-to-the-insurgency.php
Die Zeit:
http://www.zeit.de/politik/2017-02/afghanistan-sichere-regionen-bundesregierung-abschiebung
Der Tagesspiegel:
http://www.tagesspiegel.de/politik/frontex-bundespolizisten-sichern-grenze-in-ungarn/12334442.html